Straubinger, 7.Dez 2004

"Eine typisch deutsche Hysterie"

Lehrerpräsident Kraus zur PISA-Studie und ihre Besonderheiten

Das sei wieder eine typisch deutsche Hysterie, dass das Abschneiden der deutschen Schüler in der gestern veröffentlichten PISA-Studie 2003 in Grund und Boden geredet werde. Dabei würden dann die Besonderheiten Deutschlands im internationalen Vergleich völlig außer Acht gelassen, erbost sich Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrer-Verbandes im Interview mit der Zeitungsgruppe Straubinger Tagblatt/Landshuter Zeitung. Die Verbesserungen würden dabei nahezu ignoriert. Das Interview:

Wie kommentiert der Deutsche Lehrerverband die Ergebnisse der gestern veröffentlichten PISA-Studie 2003, die für die deutschen Schüler ja eine leichte Verbesserung ausweist? Josef Kraus: Ja, wir haben Verbesserungen, trotzdem ist wieder eine typisch deutsche Hysterie ausgebrochen. Laut manchen PISA-Interpreten müssten wir in Sack und Asche gehen, weil angeblich alle anderen PISA-Länder es uns wieder mal vormachen, wie man Schule betreibt. Aber das ist falsch und es ärgert mich, wie sich hier ein Kartell aus wenigen sogenannten Experten der OECD, Publizisten und Gewerkschaftlern befleißigt, das deutsche Bildungswesen in Grund und Boden reden und schreiben zu wollen.

Wie beurteilt denn nun der Lehrerpräsident Josef Kraus ganz konkret und im einzelnen die Ergebnisse? Kraus:Bei der PISA-Studie 2000 lagen die Deutschen unter 31 Ländern bei einem internationalen Durchschnittswert von 500 Punkten im damaligen Schwerpunktbereich Lesen mit 484 Punkten auf Rang 21, in der Mathematik mit 490 Punkten und in den Naturwissenschaften mit 487 Punkten jeweils auf Rang 20. Damals wie heute war Finnland spitze, zum Beispiel im Lesen auf Platz eins mit 546 Punkten. Diesmal erzielten Deutschlands Schüler unter 29 Ländern im Lesen 491 Punkte, das ist Rang 19, im aktuellen Schwerpunktbereich Mathematik 503 Punkte, Rang 17, in den Naturwissenschaften 502 Punkte, Rang 15, und im neuen Aufgabenbereich Problemlösen 513 Punkte, das ist Rang 13. Das heißt: Es gab für die Deutschen Verbesserungen um bis zu fünf Rangplätze und was viel aussagekräftiger ist - um bis zu 15 PISA-Punkte. Solche 15 PISA-Punkte entsprechen fast dem Lernpensum eines halben Schuljahres.

Wie kommt es, dass Deutschland immer noch im Mittelfeld ist? Liegt es an den Lehrern, den Schülern, den Eltern, allgemein am Schulsystem? Kraus:An allem und an allen. Schule allein kann nicht reparieren, was uns ein problematisches gesellschaftliches, mediales oder gelegentlich familiäres Umwelt einbrockt. Wenn Schule nicht wieder mehr Achtung in Gesellschaft und Familie erfährt, nicht wieder mehr mit Anstrengung und Konzentration zu tun haben darf, dann sind wir nur begrenzt reformfähig.

Und das machen uns die Skandinavier vor? Oder warum sind sie so gut, vor allem die Finnen? Liegt es auch daran, dass sie kaum Migranten haben, also geringen Ausländeranteil? Oder hat es andere Gründe? Kraus:Nicht alle Skandinavier sind spitze, die Norweger zum Beispiel nicht. Dass Finnland erneut vorne liegt kann nicht verwundern. Bereits seit PISA 2000 wissen wir, warum das so ist. Erstens pflegen die Finnen im Stolz auf ihre exotische Sprache eine hochintensive Sprachförderung; zweitens fördern sie die schwächsten Schüler gesondert in Kleingruppen mit zahlreichen zusätzlichen Förderlehrern, Sozialpädagogen und Schulpsychologen; drittens, geben die Finnen pro Schüler etwa die Hälfte mehr öffentliche Mittel aus, und viertens haben sie nahezu keine Einwanderer und damit keine Probleme mit der sprachlichen Integration der Kinder.

Aber auch die Asiaten sind zum Teil noch klar besser... Kraus:Was Japan und Korea betrifft, so weiß jeder halbwegs Kundige, dass deren PISA-Werte vielfach Ergebnis eines Lerndrills sind, der bei uns nicht vermittelbar wäre.

Und unser deutschsprachiger Nachbar Österreich? Der stand bei PISA 2000 doch noch recht gut da? Kraus:Die Österreicher sind jetzt todunglücklich. Sie haben gegenüber PISA 2000 zwischen fünf und zwölf Rangplätze beziehungsweise zwischen neun und 28 PISA-Punkte verloren. Dort wird jetzt eine Diskussion in einer Heftigkeit nachgeholt wie man dies in Deutschland ja kennt. Vielleicht aber zeigt das österreichische Ergebnis auch nur, dass die Stichproben nicht immer so ganz repräsentativ und die Testverfahren nicht immer ganz zuverlässig sind.

Und wie schaut es im innerdeutschen Vergleich hinsichtlich der Bundesländer aus?

Kraus:Da sind wir auf den September 2005 vertröstet, dann kommen die innerdeutschen Ländervergleiche. Dass die nicht gleich jetzt veröffentlicht werden, hat wohl politische Gründe. Aber: Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt. Denn das Süd-Nord-Gefälle wird vermutlich wieder recht steil werden

Wie würde Deutschland abschneiden, wenn der hohe Einwanderungsanteil, also der Ausländer und Aussiedler aus den GUS-Staaten, herausgerechnet würde?Kraus:Im deutschen Bildungsproblem sind gut 20 Prozent sogenannte Problemschüler. Rund ein Fünftel der deutschen Schülerschaft ist als Risikogruppe einzustufen, für die im Hinblick auf die weitere schulische und berufliche Laufbahn eine schlechte Prognose besteht und die nicht über das Lösen einfacher Rechnungen hinauskommt. Zu Recht heißt es in der Zusammenfassung des deutschen PISA-Konsortiums: Mit einer Anhebung des Kompetenzniveaus im unteren Viertel der Leistungsverteilung könnte in Deutschland die Leistungsstreuung kräftig reduziert und zugleich ein deutlich höherer Gesamtmittelwert erzielt werden.

Wer sind dann diese sogenannten Problemschüler? Welchen Schichten entstammen sie?

Kraus:Dazu gehören manche deutschen Schüler aus sozial schwierigen Elternhäusern, ferner Kinder, deren Eltern selbst keine abgeschlossene Schul- und Berufsausbildung haben, zudem die Schulschwänzer und Schüler, unregelmäßig Hausaufgaben machen und lernen. Es handelt sich hier um eine Schicht, der von der Schule her und ohne Hilfe von Sozialpädagogen kaum beizukommen ist.

Und die sogenannten Migrantenkinder, die Einwanderer?

Kraus:Ja, die sind in der Tat in der Risikogruppe sehr stark vertreten. PISA 2003 gibt dazu differenziert Auskunft. Im Schwerpunktbereich Mathematik erreicht Deutschland mit 503 Punkten einen mittleren Wert. Deutsche Schüler erzielen hier 527 Punkte, das wäre Platz sieben, deutsche Schüler mit nur einem im Ausland geborenen Elternteil haben 508 Punkte, Kinder zugewanderter Familien 454 und Kinder der ersten Migrantengeneration 432. Das bedeutet: Zwischen diesen vier Gruppen liegt eine Lern- und Leistungsdifferenz von fast drei Schuljahren. Ansonsten erreichen Migrantenkinder in Deutschland in etwa ein PISA-Ergebnis, wie es eines der größten Herkunftsländer deutscher Immigranten ausweist, nämlich die Türkei: Diese kam bei PISA 2003 - jeweils auf Rang 28 unter 29 Ländern in Mathematik auf 423 PISA-Punkte, in Naturwissenschaften auf 441, Lesen auf 43, Problemlösen auf 408.

Aber Staaten wie die USA, Kanada oder Australien sind klassische Einwanderungsländer. Warum wirkt sich dann dort das Migrantenproblem nicht so stark aus?

Kraus:Dort erzielen Kinder von Einwanderern in der Tat gleich gute Ergebnisse. Allerdings ist das in diesen drei Ländern weniger eine Leistung der Schulen, sondern Ergebnis einer anderen Einwanderungs- und Integrationspolitik und einer anderen Haltung der Einwanderer zu Fragen der Integration und zur Landessprache ihres Gastgeberlandes.

Was kann das deutsche Schulsystem zur Lösung beitragen?

Kraus:Schule allein wird das Problem nicht lösen. Die Förderangebote der Schulen müssen angenommen werden. Es gibt auch eine Holschuld. Es ist doch aus vielen Beispielen bekannt, dass sich manche Einwanderer-Eltern weigern, ihre Kinder an Grund- und Hauptschulen in zusätzliche Deutschkurse oder Sprachlernklassen zu schicken. Das schlägt sich dann in Sachen Schulleistung und in einem um bis zu 70 Punkte unter dem Durchschnitt liegenden PISA-Wert nieder.

Konnten wir überhaupt schon viel besser abschneiden als bei PISA 2000? Wie könnte es bei PISA 2006 aussehen? Was ist Ihre Prognose?

Kraus:Die Ergebnisse von PISA 2000 wurden Ende 2001 bzw. Ende 2002 veröffentlicht. Damit begann die heftige Diskussion. Ab Herbst 2003 wurden Reformen umgesetzt: Jahrgangstufentests in vielen Bundesländern, Reformen in der Lehrerfortbildung, bundesweit vereinbarte Bildungsstandards für Grundschulen und weiterführende Schulen. Aber: Die PISA-Testung 2003 fand bereits im Frühjahr 2003 statt. Die Getesteten konnten also gar keine Nutznießer der Reformen sein. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass unsere Schüler bei PISA 2006 mit dem Schwerpunkt Naturwissenschaften ins vordere Drittel vorstoßen können.

Interview: Bernhard Stuhlfelner

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