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BAYERNKURIER/NR.5/29.1.2004: ACHTJÄHRIGES GYMNASIUM BIETET VIELE CHANCEN

Faktenbüffeln überflüssig

Viele sind verunsichert, manche verärgert. Von "Abitur light" wird gesprochen, wenn die Bayerische Staatsregierung wie geplant das Gymnasium von neun auf acht Jahre verkürzt. Doch damit ist die historische Chance verbunden, diese qualifizierteste aller weiterführenden Schulen grundlegend zu reformieren und so internationale Standards zu erreichen.Weltweit entwickeln Chemiker heutzutage jede Minute eine neue Formel, alle drei Minuten wird ein neuer physikalischer Zusammenhang erforscht und alle fünf Minuten eine neue medizinische Erkenntnis gewonnen. Das Wissen der Menschheit verdoppelt sich alle zehn Jahre. Hieß es früher. Bald galten fünf Jahre alsVerdopplungszeitraum des Weltwissens. Und für dieGegenwart rechnen Wissenschaftler mit einer Halbwertszeit von etwa achtzehn Monaten. Ein rasantes Tempo. Und da will Bayern die Schulzeit am Gymnasium verkürzen? Wie soll denn die überbordende Fülle an Wissen in noch kürzerer Zeit vermittelt werden? Was auf den ersten.Blick kontraproduktiv klingt, bietet jedoch eine unglaubliche Chance, auf diese immense Herausforderung zu reagieren.Von Lehrerverbänden, Elternvereinigungen wird immer wieder befürchtet, das G 8 führe zu einem Schmalspur-Abitur, weil die Zeit einfach nicht ausreiche, um den ständig sich vermehrenden Stoff zu vermitteln. Dabei wird übersehen, dass beim Wegfall der dreizehnten Klasse allenfalls ein halbes Jahr Lehren und Lernen betroffen ist. Doch weit wichtiger ist eine Umgestaltung des gesamten Unterrichts - gerade in Hinblick auf die rasante Wissensentwicklung. Kein Mensch kann mehr wie früher universal gebildet sein, der Generalist gehört der Vergangenheit an.

Das sture Pauken von Zahlen und Fakten, die blanke Vermittlung von lexikalischem Wissen wird mehr und mehr verschwinden. "Drei, drei, drei - bei Issos Keilerei" merken sich Schüler mit Hilfe einer Eselsbrücke im Fach Geschichte, wie die Heere Alexanders des Großen und des Perserkönigs Dareios im Jahre 333 vor ,Christus aufeinandertrafen. Doch ist dieses Wissen wirklich notwendig? Wichtig ist vielmehr, dass ein Schüler weiß, wo er nachschauen kann, und wie er dann das nackte Faktum in einen größeren Sinnzusammenhang einzuordnen hat. Brockhaus und Meyers Enzyklopädie haben das Faktenbüffeln zu bestimmten Teilen überflüssig gemacht. Das Internet, von Schülern eifrig genutzt, bietet ebenfalls eine umfassende Plattform zur Vermittlung von Fakten.Allerdings ist es bequemer, reines Pauk-Wissen zu prüfen. Wer die Frage nach der Jahreszahl der Schlacht bei Issos nicht korrekt beantwortet, hat eben null Punkte. Das ist schnell abgehakt. Schwieriger und aufwendiger wird es allerdings, die Bedeutung des Gefechts für die weiteren historischen Abläufe zu erfragen und zu beurteilen. Ähnliches gilt für alle Fächer.

Natürlich ist ein gerüttelt Maß an Allgemeinbildung notwendig, um eine anständige Hochschulreife zu erlangen. Doch müssen alle Schüler, von denen später sehr viele Jura, Betriebswirtschaft oder Informatik studieren wollen, unbedingt auswendig wissen, welche Bodenschätze im südöstlichen Ural abgebaut werden oder wie die Doppelhelix im Modell von Watson und Crick aussieht? Das ist natürlich lehrreich für spätere Geologen und Chemiker. Doch die wissen eh', wo sie nachschauen können. Peter Baier