Straubinger, 16.Nov 2004

Seehofer erwägt Rücktritt von all seinen Funktionen

Protest gegen Gesundheitskompromiss von CDU und CSU -
Entscheidung in nächsten Tagen erwartet -
Massive Ablehnung des Konzepts durch Politik, Wirtschaft und Kassen

München.(AP/dpa) Der CSU-Sozialexperte Horst Seehofer erwägt, sich aus Protest gegen den Gesundheitskompromiss der Union von allen politischen Ämtern zurückzuziehen. Während der Vorstand das Konzept am Montag in München absegnete, verließ Seehofer die Parteizentrale vorzeitig und sichtlich aufgewühlt. Dabei kündigte er an, er müsse jetzt über seine weiteren Schritte nachdenken. Auch bei Politik, Wirtschaft und Krankenkassen stößt das Konzept auf massive Ablehnung.

"Das ist vielleicht die schwierigste Entscheidung meiner politischen Karriere", sagte der frühere Bundesgesundheitsminister. "Lassen Sie mir Zeit zum Luftholen und Nachdenken. " CSU-Chef Edmund Stoiber betonte, dass "eine hervorragende Sache" nicht allein von Personen abhänge. "Ich habe für alles Verständnis", sagte Stoiber. "Wir werden sehen, wie er sich entscheidet "

Seehofer ist stellvertretender CSU-Chef und einer der stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag. In dieser Funktion ist er für die Sozialpolitik zuständig. Er ist seit langem ein erklärter Gegner des CDU-Konzepts einer Kopfpauschale, die er als ungerecht ablehnt. Bereits am Sonntagabend hatte Stoiber in einem Gespräch versucht, ihm den Kompromiss zu vermitteln. Danach hatte Seehofer erklärt, er sei sehr aufgewühlt und müsse noch einmal eine Nacht darüber schlafen. Seehofer erklärte, er sei nur bis Freitagnachmittag in die Gespräche eingebunden gewesen. Die letzten Verhandlungen hatten Stoiber und CDU-Chefin Angela Merkel geführt.

Landtagspräsident Alois Glück sagte nach der Vorstandssitzung, Seehofer habe Kritik an Einzelpunkten des Gesundheitskompromisses geübt und wolle seine Position in den nächsten Tagen klären. "Es ist eine Frage, in welchen Strukturen gegebenenfalls die Weiterarbeit möglich ist", sagte Glück. CSU-Landesgruppenchef Michael Glos sagte: "Ich hoffe jedenfalls, Horst Seehofer trägt das nach einer Überlegungszeit mit."

An der Sitzung des CSU-Vorstands nahm Seehofer nicht teil, wie Generalsekretär Markus Söder berichtete. Der Gesundheitsexperte hatte unmittelbar vor der Sitzung mit Stoiber und anderen gesprochen. Stoiber sagte, der Vorstand habe den Kompromiss sehr einmütig gebilligt und unterstützt. "Ich gehe davon aus, dass CSU und CDU jetzt in dieser Frage eine sehr geschlossene Haltung haben", erklärte der Parteichef.

Mit dem Reformkonzept wollen Merkel und Stoiber die Krankenkassen stabilisieren und einen Beitrag zur Schaffung von mehr Wachstum und Arbeitsplätzen leisten. Das Prämienmodell soll im Bundestagswahlkampf dem rot-grünen Projekt der Bürgerversicherung entgegengestellt werden. Nach der Einigung soll jeder versicherte eine Krankenkassenpauschale von 109 Euro monatlich bezahlen. Zusätzlich sollen die Kassen weitere 60 Euro je Versichertem vom Arbeitgeber erhalten, so dass bei den Kassen eine einheitliche Gesundheitsprämie von 169 Euro ankommt.

Stoiber und Merkel zeigten sich zufrieden mit dem Kompromiss. Merkel sagte, die Verständigung mit der CSU sei unumkehrbar und weise in die richtige Richtung.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) warf der Union Regierungsunfähigkeit vor. Merkel und Stoiber könnten mit solchen Vorschlägen vielleicht in einem Bierzelt Erfolg haben. Die Freidemokraten würden das Konzept nicht akzeptieren, kündigte FDP-Vizechef Andreas Pinkwart an: "Sowas wird mit uns nicht vereinbar sein." Auch Parteichef Gudio Westerwelle lehnte das Konzept ab.

Auch die Krankenkassen reagierten mit einem Nein: Aus Sicht der Barmer muss der monatliche Betrag jährlich steigen und kann nicht für alle Kassen gleichmäßig gelten.

Ablehnung kam auch vom CDU-Wirtschaftsrat. "Dieser Kompromiss und die sozialistische Bürgerversicherung haben eines gemeinsam: Sie setzen beide erneut das untaugliche Modell der Umlagenfinanzierung jung zahlt für alt fort", sagte ihr Chef Kurt Lauk. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt nannte das Modell "völlig inakzeptabel" und ' einen "äußerst faulen Kompromiss".

Straubinger, 19.Nov 2004

Horst Seehofer gibt die Gesundheitspolitik ab

Der CSU-Sozialexperte bleibt aber Partei- und Fraktionsvize -
Stoiber erwartet ein klares Parteitagsvotum zum Gesundheitskompromiss -
Mehr Freiheit für die Kommunen

München. (dpa/AP) Ungeachtet seines massiven Protests gegen den Gesundheitskompromiss der Union behält CSU-Sozialexperte Horst Seehofer seine politischen Ämter. Zwar gibt er die Zuständigkeit für die Gesundheitspolitik ab, bleibt aber Vizechef der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion. Auch den Stellvertreterposten in der CSU führt er weiter, teilte die CSU-Zentrale in München am Donnerstagabend nach einem Krisengespräch zwischen Seehofer und CSU-Chef Edmund Stoiber mit. Dennoch will Seehofer nicht am CSU-Parteitag am heutigen Freitag und am morgigen Samstag in München teilnehmen.

Die Vereinbarung wurde nach einem zweistündigen Gespräch Seehofers mit CSU-Chef Stoiber in der Münchner Staatskanzlei getroffen. Die CSU erklärte anschließend, Seehofer behalte die Sozialpolitik und werde an Stelle der Gesundheitspolitik im Tausch ein zusätzliches Fachgebiet in der Fraktion erhalten. Welches, werde von den beiden Parteivorsitzenden Angela Merkel und Edmund Stoiber noch besprochen. Die CSU wies ausdrücklich darauf hin, dass sie das Benennungsrecht für diese Position hat. Die Unions-Bundestagsfraktion betonte, über Seehofers neues Aufgabengebiet werde nur die Fraktion gemeinsam entscheiden. Stoiber telefonierte nach dem Seehofer-Gespräch mit Merkel.

Mehrere Zeitungen hatten berichtet, Seehofer habe Stoiber und Merkel den Rücktritt von seinen Ämtern angeboten, falls er den Gesundheitskompromiss von CDU und CSU mittragen müsse. Die beiden Parteivorsitzenden hätten aber gefordert, diese Entscheidung müsse er selbst treffen.

Seehofer klagte nach dem Bericht einer Leipziger Zeitung CSU-intern über "mangelnden Korpsgeist". Wie das Blatt unter Berufung auf führende Kreise der CSU schreibt, habe Seehofer gesagt, es würden "Giftbecher" herumgereicht, statt pfleglich miteinander umzugehen. Die CSU-Landesgruppe reagierte mit Befremden auf diese Vorwürfe.

Auf dem Parteitag erwartet Stoiber, ungeachtet der Turbulenzen um Seehofer ein klares Votum für das Gesundheitskonzept. CSU-Generalsekretär Markus Söder sagte: "Von dem Parteitag soll ein klares Signal für die gemeinsame Handlungsfähigkeit von CDU und CSU ausgehen."

Bei dem Delegiertentreffen soll der Gesundheitskompromiss mit der CDU nach dem Willen Stoibers gleich am ersten Tag an prominenter Stelle beraten und zur Abstimmunggestellt werden. Das Votum werde "mit Sicherheit"unmissverständlich ausfallen. Die CSU habe ihre "allermeisten Anliegen" in der Einigung mit der Schwesterpartei erreicht, so Stoiber.

Nach der Verwaltungsreform will die Staatsregierung im nächsten Jahr den Abbau überflüssiger Vorschriften zum Schwerpunkt machen. Dabei sollen die Kommunen größeren Freiraum erhalten, sagte Staatskanzleichef Erwin Huber (CSU). Die CSU-Landtagsfraktion hatte am Vorabend - wie berichtet - die größten Änderungen in der bayerischen Verwaltung seit der Gebietsreform in den siebziger Jahren beschlossen. Demnach soll 2005 der Vorschriften Dschungel weiter gelichtet werden. Dabei sollen vor allem die Kommunen eigenständiger werden. Überlegt wird unter anderem, ob die Kommunen staatliche Zuschüsse als Pauschalzahlungen erhalten. Seit 2003 sei die Zahl der Landesgesetze bereits um zehn Prozent auf 312 reduziert worden, sagte Huber.

 

Straubinger,20.Nov 2004

CSU-Parteitag stimmt Gesundheitskonzept zu

Aber beachtliche Zahl von Gegenstimmen - Stoiber warb zuvor eindringlich für den Kompromiss mit der CDU - Großer Beifall für Merkel-Rede - Seehofer nicht anwesend

München. (dpa/AP) Der CSU-Parteitag hat unter dem Eindruck des Konflikts um Parteivize Horst Seehofer den Gesundheitskompromiss mit der CDU bei einer beachtlichen Zahl von Gegenstimmen gebilligt. In Abwesenheit Seehofers votierten am Freitag in München 644 von 730 stimmberechtigten Delegierten für die Vereinbarung, für die Parteichef Edmund Stoiber eindringlich geworben hatte.

Nach dem monatelangen Streit um das Gesundheits-Modell wurde die Rede von CDU-Chefin Angela Merkel am Abend mit großem Beifall aufgenommen. Die Menschen erwarteten, dass CDU und CSU in einem Team arbeiteten, sagte Merkel. Die Wählerinnen und Wähler schauten argwöhnisch darauf, ob die Union sich etwa nur um Posten und persönliche Interessen kümmere. "CDU und CSU marschieren gemeinsam, gelegentlich mit unterschiedlichen Akzenten, aber immer in dem Bewusstsein, dass es schön ist, eine Schwester zu haben."

Nach den Feststellungen des Tagungspräsidiums waren 85 Parteitagsmitglieder in der offenen Abstimmung gegen den Kompromiss, ein Delegierter enthielt sich. Damit lehnten 11,6 Prozent des Parteitags das Modell ab, für den sich neben Stoiber die gesamte Parteispitze stark gemacht hatte. Ohne Seehofer zu nennen, sagte Stoiber nach der Abstimmung, damit sei der Kompromiss die Leitlinie für die CSU. "Jeder, der sich in der Öffentlichkeit zu diesem Thema äußert, hat zu berücksichtigen, was der Parteitag heute beschlossen hat."

Mehrmals hatte Stoiber im Laufe des ersten Tages des Delegiertentreffens zur Geschlossenheit aufgerufen. Nachdem die Rücktrittsdrohung Seehofers die CSU in den vergangenen Tagen in eine Zerreißprobe getrieben hatte, kritisierte Stoiber das Nein des früheren Bundesgesundheitsministers und der übrigen parteiinternen Kompromissgegner und warf ihnen vor, einen Erfolg bei der Bundestagswahl 2006 aufs Spiel zu setzen.

In der zweistündigen Debatte, die nach den Querelen um Seehofer eigens in die Tagesordnung des Parteitags aufgenommen wurde, hatte der CSU-Arbeitnehmerflügel das Verhandlungsergebnis nochmals angegriffen. Der Kompromiss zur Einführung einer Gesundheitsprämie habe "Schwachstellen". Danach soll jeder Versicherte künftig eine Prämie von 109 Euro zahlen. Bei den Kassen soll aber ein einheitlicher Betrag von 169 Euro ankommen, in den der Arbeitgeberanteil von 60 Euro einfließt.

Stoiber bezeichnete die mit Seehofer am Vortag getroffene Vereinbarung, wonach dieser trotz seiner Kritik seine Ämter in der Partei und Bundestagsfraktion behalten soll, als notwendig. "Damit bleibt die CSU in hohem Maß geschlossen", sagte Stoiber. Es sei aber "völlig klar" gewesen, dass Seehofer wegen seiner Ablehnung der Vereinbarung mit der CDU als stellvertretender Bundestagsfraktionschef nicht weiter für Gesundheit zuständig sein könne.

Für welche Bereiche Seehofer in der Unions-Fraktion künftig zuständig sein wird, wurde auf dem Parteitag noch nicht deutlich. Die CDU besteht nach dpa-Informationen darauf, dass über einen Neuzuschnitt der Aufgaben die Gesamtfraktion abstimmen muss. Das Prozedere soll am kommenden Montag geklärt werden.

Seehofer hatte nur Stunden nach dem Krisengespräch mit Stoiber in der ARD noch Änderungen verlangt. "Ich bin ganz sicher, dass wir bis zur Bundestagswahl noch das eine oder andere überlegen bei dem Kompromiss, ob das so richtig ist." In einem Zeitungsinterview kündigte er an, er wolle sich als CSU-Vize zwar weiter in die Gesundheitspolitik einmischen, aber nicht mehr den Kompromiss kritisieren.

SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter warf der CSU vor, sie sei mit ihrer Zustimmung zum Gesundheitskompromiss eingeknickt und habe sich vom Sozialen verabschiedet. Mit aller Macht der Parteitagsregie versuche die CSU die "Murkspauschale" durchzudrücken, erklärte Benneter.

 

Medical Tribune, 23.Nov 2004

Unionskompromiss löst GKV-Finanzierungsprobleme nicht

Ärzte kritisieren "gestoiberten" Plan

BERLIN - Angela Merkels Plan einer Einheitsprämie für alle GKV-Versicherten ist durch den Kompromiss mit der CSU zu einem intransparenten und bürokratischen Mischsystem degeneriert. Entsprechend harsch ist die Kritik von allen Seiten.

Individuelle Prämie von 109 Euro, plus 60 Euro aus Arbeitgeberanteilen und obendrein Steuerzuschüsse für Kleinverdiener und Kinder - einzig der Deutsche Beamtenbund findet den Plan, der die private Krankenversicherung (PKV) ungeschoren lässt, ganz passabel. Bundesärztekammer und Ärzteverbände kritisieren dagegen die von der Union anvisierte Abhängigkeit der Kasseneinnahmen von Steuerzuschüssen und die insgesamt knappe Finanzausstattung des GKV. "Die dem UnionsKonzept zu Grunde liegende Pauschale berücksichtigt weder den medizinischen Fortschritt noch schafft sie Alterungsrücklagen für den demographischen Wandel", stellt der Vorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dr. MAMMILIAN ZOLLNER, fest. In dieselbe Kerbe haut Hartmannbund-Chef Dr. HANS-JORGEN THOMAS: "Es ist unverantwortlich, dem Bürger zu vermitteln, dass mit einer Kopfprämie von 169 Euro der medizinische Standard zu halten ist."

Tatsächlich schreibt das UnionsKonzept das GKV-Jahresbudget zunächst bei knapp 129 Mrd. Euro fest. Dabei sind die etwa 10 Mrd. Euro Einsparungen der letzten Gesundheitsreform berücksichtigt, allerdings keinerlei Ausgabensteigerungen - die erfahrungsgemäß nominal mindestens 2 % jährlich ausmachen. Von einer grundlegenden finanziellen Stabilisierung der vor allem unter schwächelnden Einnahmen ächzenden GKV kann keine Rede sein. Das allerdings ist keineswegs Folge des faulen Kompromisses mit der CSU, sondern galt ebenso schon für Merkels ursprünglichen Master-Plan, der nun kräftig "gestoibert" wurde.

Der auch von dem potenziellen Unions-Regierungspartner FDP mit rüden Formulierungen abgelehnte Kompromiss hat darüber hinaus vor allem zwei Schönheitsfehler: Die steuerliche Gegenfinanzierung des Sozialausgleichs für Niedrigverdiener sowie die vom Staat zu tragenden GKV- und PKV-Beiträge für Kinder in Höhe von 78 Euro monatlich ist nicht gesichert - mindestens 32 Mrd. Euro pro Jahr sind dafür veranschlagt, die Finanzierungslücke beträgt mindestens 7 Mrd. Euro. Hinzu kommt, dass die auf 6,5 % gedeckelten GKV-Beitragsanteile von Arbeitgebern, Renten- sowie Arbeitslosenversicherung mit insgesamt 65 Mrd. Euro jährlich von der Union wahrscheinlich zu hoch angesetzt sind. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums jedenfalls ist nur mit 54 Mrd. Euro zu rechnen. Insgesamt beträgt die Finanzierungslücke demnach 18 Mrd.Euro jährlich.

Zweitens ist die von der Union jetzt vorgesehene individuelle Gesundheitsprämie in Höhe von nur noch 109 Euro monatlich je Erwachsenen (die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern ohne Einkommen entfällt) ein Entlastungsprogramm für gutverdienende Singles. Die soziale Schieflage des Unions-Kompromisses ist evident, und treibt nicht nur Horst Seehofer auf die Palme: Wer als Arbeitnehmer 3500 Euro verdient, muss bisher bei 14,2 % Durchschnittsbeitragssatz - 248,50 Euro Arbeitnehmeranteil für die GKV berappen. Künftig wären es nur noch 109 Euro. Das klingt nach einem guten Geschäft allerdings werden de facto Niedrigverdiener und alle Steuerzahler zusammen für diese Lücke aufkommen müssen. khb

 

FAZ, 26.Nov 2004

Mit der Kopfpauschale in die Schuldenfalle

Einkommensabhängige Krankenkassenbeiträge sind das einzige einigermaßen wirksame Instrument zur Begrenzung der Kosten des Gesundheitssystems

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem neuen Gutachten vorgeschlagen, die einkommensabhängige Finanzierung unseres Gesundheitssystems auf ein System der Kopfpauschalen für alle umzustellen. Durch die sogenannte Bürgerpauschale soll die private Krankenversicherung in ihrer heutigen Form abgeschafft werden.

Dies steht sowohl im Gegensatz zu früheren Positionen des Rates als auch zum Kompromißmodell von CDU und CSU sowie zu den vorausgegangenen Vorschlägen von Bert Rürup.

Der Vorschlag dieser Bürgerversicherung mit Kopfpauschalen scheint auf den ersten Blick besonders attraktiv, weil er das Motiv der sozialen Gerechtigkeit ein System für alle - mit der vermeintlich ökonomischen Vernunft einer Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnkosten vereint. Die Einsicht, ein gutes Gesundheitssystem für alle Bürger einzufahren und damit zwei durch Ineffizienz geplagte Systeme zu ersetzen, ist zu begrüßen.

In zehn Jahren sind die Kosten der Privaten Krankenversicherung (PKV) jedoch um 43 Prozent gestiegen, in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hingegen nur um 29 Prozent. Und dies, obwohl die Privaten nur die relativ guten Risiken wie Beamte, Selbständige und einkommensstarke Angestellte versichern. Die PKV gibt 13 Prozent ihrer Einnahmen für Verwaltung aus, die GKV lediglich 5,8 Prozent. Der Sachverständigenrat hat recht, daß dieses System sich nicht bewährt hat und eingestellt werden sollte. Der Rat hat auch recht, daß Verzicht auf die heutige PKV nicht Verzicht auf Kapitaldeckung bedeuten muß, da diese auch an eine Bürgerversicherung angefügt werden kann. Die meisten Gründe sprechen jedoch für eine nachhaltige Kapitaldeckung fürs Alter in der Rentenversicherung.

Unrecht hat der Rat jedoch in der Einschätzung, daß es aus volkswirtschaftlicher Sicht besser wäre, wenn einkommensabhängige Beiträge durch Kopfpauschalen ersetzt würden. Er argumentiert, daß die Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnkosten Arbeitsplätze schaffen würde. Dieser Zusammenhang wird in letzter Zeit auch von anderen Volkswirten so oft unterstellt, daß er mittlerweile den Charakter eines Dogmas gewinnt. Es wird argumentiert, daß im mittleren Einkommensbereich von jedem zusätzlich verdienten Euro mehr beim Angestellten übrigbleibe und daher mehr Arbeit angeboten würde.

Aus gesundheitsökonomischer Sicht sind die Verhältnisse aber deutlich komplexer. In Deutschland fehlt es nicht am Angebot an Arbeit, sondern an Nachfrage. Die Nachfrage könnte nur steigen, wenn die Kopfpauschale sich dämpfend auf die Gesamtlohnhöhe aus Arbeitgebersicht auswirken würde. Davon kann aber nicht ausgegangen werden, denn Kopfpauschalen führen zu deutlichen Mehrausgaben im Gesundheitsbereich, was entsprechenden Lohndruck ausübt. Das einzige Instrument, welches überhaupt einigermaßen wirksam die Gesundheitskosten begrenzt hat, ginge bei Kopfpauschalen verloren: die Anbindung der Gesundheitsausgaben an die Entwicklung der Grundlohnsumme.

Stark steigende Kopfpauschalen führen entweder zu sinkenden Nettolöhnen oder steigenden Bruttolöhnen. In der Schweiz, dem einzigen Land in Europa mit Kopfpauschalen, stieg die durchschnittliche Kopfpauschale von 1996 bis 2003 von 173 Euro auf 269 Euro, also um 55 Prozent. Der Sachverständigenrat geht in seinem Gutachten davon aus, daß die Kopfpauschale auch in Deutschland inflationsbereinigt von 198 Euro auf 331 Euro bis 402 Euro pro Monat im Jahr 2030 steigen würde. Dies hätte katastrophale Auswirkungen auf die benötigten Steuermittel für den sozialen Ausgleich. Bei einer Überforderungsquote von 13 Prozent des Haushaltseinkommens müßte der jährliche Steuerzuschuß von 30 Milliarden Euro auf 97 Milliarden bis 147 Milliarden Euro pro Jahr steigen und den Steuerzuschuß für das Rentensystem deutlich überschreiten.

Es ist völlig offen, wie und weshalb wir uns eine solche Steuersubvention des Gesundheitssystems leisten sollten. Denn trotz wirksamer Kostenbegrenzung kann nicht argumentiert werden, daß das deutsche Gesundheitssystem derzeit unterfinanziert sei. Es ist noch immer das zweitteuerste Gesundheitssystem Europas, gleich nach der Schweiz, etwa 25 Prozent teurer als der europäische Durchschnitt, ohne mehr als eine durchschnittliche Qualität in der Versorgung leisten zu können.

Auch kurzfristig wirkt sich die Einführung der Kopfpauschale negativ auf den Arbeitsmarkt aus, insbesondere in den neuen Bundesländern. Die bundesweit einheitlichen Kopfpauschalen würden die einkommensabhängigen Beiträge ersetzen. In Niedriglohngebieten stiege somit die Belastung, in Hochlohngebieten sänke sie in der Tendenz. In den neuen Bundesländern gäbe es entweder steigende Arbeitskosten oder sinkende Nettolöhne. Zusätzlich würden Steuererhöhungen zur Finanzierung des sozialen Ausgleichs notwendig.

Um eine solche Belastung des Arbeitsmarktes zu vermeiden, sollte die einkommensabhängige Finanzierung der Krankenversicherung beibehalten werden und um Beiträge auf Kapitalerträge ergänzt werden. Diese Mehreinnahmen sollten zur unmittelbaren Senkung der Beitragssätze und somit Lohnnebenkosten genutzt werden. Demographische Risiken sollten durch das Erschließen der Effizienzreserve und mehr Prävention angegangen werden.

Kopfpauschalen würden uns weiter in die Schuldenfalle treiben. Die gesetzliche Krankenversicherung ist mit sechs Milliarden Euro nur relativ geringfügig verschuldet, gemessen an den Schulden des Bundes mit 860 Milliarden Euro. Bliebe das durch Kopfpauschalen erhoffte - meines Erachtens völlig unrealistische - Wachstum aus, bliebe nur die Schuldenfalle.

Karl Lauterbach ist gesundheitspolitischer Berater der Bundesregierung und Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie der Universität Köln.

 

Landshuter, 22.Nov 2004

Schmidt: Einigung mit Union ist unmöglich

Ministerin kritisiert Gesundheitskonzept von CDU und CSU –
Streit über Zukunft Seehofers

Berlin. (dpa/AP) Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) sieht nach der Einigung von CDU und CSU in der Gesundheitspolitik keine Gemeinsamkeit mit der Opposition mehr. "Zwischen unserer Bürgerversicherung und dem, was CSU und CDU jetzt als Kompromiss vorgelegt haben, gibt es nicht den Hauch einer Verständigungsmöglichkeit", sagte sie einer Sonntagszeitung. "Es geht denen nur um eines: Unser solidarisches Gesundheitssystem soll zerstört werden, und da mache ich nicht mit."

Die nächste Gesundheitsreform müsse bald nach der Bundestagswahl 2006 kommen. Wegen der Unionsmehrheit im Bundesrat plant die Ministerin vorher keine weiteren Reformen: "Kurz vor einem Wahljahr bringe ich kein Gesetz ein, von dem ich weiß, dass es keine Chance hat."

Schmidt warf der Union vor, dass ihre Gesundheitsprämie von 169 Euro nicht ausreiche, um die Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse zu finanzieren. "Das wurde bewusst kleingerechnet", sagte sie.

Nach Ansicht des Wirtschaftsprofessors Bert Rürup weist das Gesundheitsmodell der Union konzeptionelle Mängel auf und verschleiert die wahren Gesundheitskosten. Rürup bemängelte unter anderem die Bezuschussung der Versichertenpauschale von 109 Euro aus Arbeitgeberanteilen und aus Steuern, um auf durchschnittlich 169 Euro zu kommen. Damit sei für den Einzelnen nicht nachvollziehbar, wie viel Geld letztlich bei der Kasse ankomme und was Gesundheit tatsächlich koste.

Der Trend sinkender Ausgaben bei Arzneimitteln seit Einführung der Gesundheitsreform im Januar ist derweil nach Angaben der Bundesregierung trotz anderer Darstellungen ungebrochen. Das zeigten die Zahlen für die ersten zehn Monate dieses Jahres eindeutig, sagte eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums am Samstag in Berlin. Sie widersprach damit einem Bericht eines Nachrichtenmagazins, wonach die gesetzlichen Krankenkassen trotz Praxisgebühr und höherer Zuzahlungen mehr für Arzneimittel ausgeben müssten.

Die seit Januar wirksame Gesundheitsreform habe bei den Arzneimitteln "deutliche Einsparungen" gebracht. Die Ausgaben seien von Januar bis Oktober im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum um 2,1 Milliarden Euro gesunken, erläuterte die Sprecherin. Unter Berufung auf Berechnungen der Ortskrankenkassen hatte hingegen das Magazin berichtet, die Pharmaproduzenten trieben die Ausgaben durch größere Packungen in die Höhe.

Auch nach seiner Ablösung als Unions-Gesundheitsexperte sorgt Horst Seehofer derweil weiter für Streit: In der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gibt es Widerstand gegen das Vorhaben der CSU, Seehofer solle in der Fraktion stellvertretender Vorsitzender für Sozialpolitik bleiben, allerdings ohne den Gesundheitsbereich. Der haushaltspolitische Sprecher der Fraktion, Dietrich Austermann (CDU), sagte dazu, er sehe "keine Chance" für diesen Plan von CSU-Chef Edmund Stoiber. Einer solchen Änderung der Zuständigkeitsbereiche müsse die gesamte Fraktion zustimmen.

FAZ, 26.Nov 2004

Zöller verteidigt Gesundheitsprämie

Regierung: Lage bei Pflege und Renten kritisch

ami. BERLIN, 25. November. Der Streit um das Unions-Konzept für eine Reform der Krankenversicherung und die kritische Lage der Sozialversicherung haben die Bundestagsdebatte um den Haushalt des Bundessozialministeriums am Donnerstag bestimmt. Der CSU-Politiker Wolfgang Zöller, der am Freitag zum neuen, für Soziales und Arbeitnehmerfragen zuständigen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Union gewählt werden soll, verteidigte das Prämienmodell der Union gegen Attacken der Regierungsfraktionen. Im internen Streit um das Konzept war sein Vorgänger, Horst Seehofer, am Montag zurückgetreten. Seehofer, der sich eine "Auszeit" zur Besinnung in einem Kloster nehmen will, verfolgte die Debatte im Plenum, griff aber nicht ein.

Zöller verteidigte wie andere Sprecher der Union die Entkopplung von Arbeits- und Gesundheitskosten durch eine Gesundheitsprämie. Besserverdienende würden zum solidarischen Ausgleich herangezogen, die Beiträge für Kinder aus Steuern finanziert. Fragen zur Finanzierung beantwortete Zöller mit Gegenfragen nach unbekannten Details der von Rot-Grün geplanten Bürgerversicherung. Mit Blick auf die Lage der Pflege- und Rentenkassen sprach er von einem "finanziellen Offenbarungseid". Die Regierung habe die Systeme mit einer verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik "an die Wand gefahren". Auch die FDP monierte ungelöste Probleme in der Sozialversicherung.

Für die Regierung räumte die parlamentarische Staatssekretärin im Sozialministerium, Marion Caspers-Merk (SPD), ein, daß die Rentenkasse "auf Kante genäht" sei. In der Pflegeversicherung gäbe es ohne die Beitragserhöhung für Kinderlose vom Jahr 2005 an ernste Schwierigkeiten. Im Gesundheitssystem habe man keinen Spielraum, die Reform zurückzunehmen. Wie die Grünen warf Caspers-Merk der Union vor, ihr Gesundheitsprämienmodell sei unsolidarisch und nicht finanzierbar. Mit den Stimmen von Rot-Grün beschloß der Bundestag den Sozialetat. Mit 84,4 Milliarden Euro ist er der größte Einzelhaushalt des Bundes. 77,9 Milliarden Euro des Haushaltes fließen in die Rentenkassen.

 

27.Nov 2004

Versicherte werden mehr zur Kasse gebeten

Bundestag setzt Regelungen für Zahnersatz und Pflege durch –
Agrardiesel wird teuerer

Berlin. (dpa/AP) Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen müssen ab 1.Juli 2005 mehr für Zahnersatz zahlen. Schon ab Januar steigt der Pflegebeitrag für Kinderlose. Mit der Kanzlermehrheit setzten SPD und Grüne am Freitag die Neuregelungen im Bundestag durch. Einsprüche, die der Bundesrat zuvor mit seiner Mehrheit unionsregierter Länder gegen beide Gesetze erhoben hatte, wurden wenig später im Bundestag mit 303 gegen 286 beziehungsweise 285 Stimmen überstimmt.

Die Neuregelung zum Zahnersatz sieht vor, dass Beschäftigte und Rentner vom 1. Juli 2005 an einen Sonderbeitrag für den Zahnersatz von 0,45 Prozentpunkten auf ihren Krankenkassenbeitrag zahlen sollen. Arbeitgeber und Rentenkassen beteiligen sich daran nicht.

Der Pflegebeitrag soll zum 1. Januar 2005 für Kinderlose um 0,25 Prozentpunkte steigen. Bürger ohne Kinder müssen somit für die gesetzliche Pflegeversicherung statt 0,85 Prozent künftig monatlich 1,1 Prozent des Bruttoeinkommens bezahlen. Die Regelung gilt für Versicherte ab 23 Jahren. Jahrgänge vor 1940 sind von der höheren Zahlung ausgenommen.

Durch die Neuregelung bei Zahnersatz und die schon früher beschlossene Krankengeldregelung sinkt der allgemeine Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung von derzeit durchschnittlich 14,2 Prozent vom Juli 2005 an um 0,9 Prozentpunkte. Für die Arbeitgeber sinkt ihr hälftiger Anteil am Kassenbeitrag dadurch um 0,45 Prozentpunkte. Da die Versicherten den Kostenanteil für beide Leistungen allein tragen müssen, erhöht sich ihre Beitragshälfte um ebenfalls 0,45 Prozentpunkte. Rechnerisch bliebe der durchschnittliche Arbeitnehmerbeitrag damit bei 7,1 Prozent, während der Arbeitgeberbeitrag bei 6,2 Prozent läge.

Nach dem Bundestag billigte auch der Bundesrat den Kompromiss für die Abrechnung der Klinikleistungen. Damit haben die Kliniken zwei Jahre länger Zeit, ihre Abrechnung auf Fallpauschalen umzustellen.

Die Steuererhöhung bei Agrardiesel ist unterdessen ebenfalls beschlossene Sache. Der Bundestag wies mit Kanzlermehrheit den Einspruch des Bundesrats gegen das Haushaltsbegleitgesetz zurück. Die Novelle wird zum 1. Januar 2005 in Kraft treten. Derzeit liegt der Steuersatz für Agrardiesel bei 25,56 Cent pro Liter. An der Tankstelle zahlt der Bauer aber den regulären Steuergatz von derzeit 47,04 Cent. Die Differenz wird rückerstattet, wenn sie über der Bagatellgrenze von 50 Euro liegt.

Künftig können die Land- und Forstwirte den alten Steuersatz nur noch für maximal 10000 Liter pro Betrieb und Jahr ansetzen. Außerdem wird ihnen von der rückzuerstattenden Summe ein "Selbstbehalt" von 350 Euro abgezogen. Kleinbetriebe, die wenig Diesel verbrauchen, zahlen damit künftig den vollen Steuersatz.

Das rot-grüne Gentechnik-Gesetz ist ebenfalls unter Dach und Fach. Der Bundestag wies am Freitag auch den Einspruch des Bundesrats gegen dieses Gesetz ab. Im Mittelpunkt steht die umstrittene Haftungsregelung bei gentechnischer Verunreinigung traditionell bestellter umliegender Felder durch Gen-Pflanzen.

zurück