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Landshuter/Straubinger, 27.Dezember 2003

GASTKOMMENTAR: REALISMUS IN EUROPAPOLITIK

VON MICHAEL GLOS, MDB, VORSITZENDER DER CSU-LANDESGRUPPE IM BUNDESTAG

Der EU-Gipfel in Rom über einen Verfassungsvertrag für Europa ist gescheitert. Das ist nicht verwunderlich. Wer sich, wie Berlin und Paris, bei der Aussetzung des Stabilitätspakts wie die viel zitierte Axt im Wald benimmt, der darf sich nicht wundern, wenn andere EU-Mitglieder ihre Muskeln spielen lassen. Das Scheitern des Gipfels ist letztlich Ausdruck des misslungenen Versuchs der führenden EU-Staaten zur Dominierung der anderen Mitglieder.

Das Scheitern des Gipfels muss jetzt als Chance begriffen werden. Gefragt sind mehr denn je Realismus und eine gründliche Überarbeitung der umstrittenen Vorschläge des Konvents. Will die EU im Zuge der Erweiterung ihre Handlungsfähigkeit sicherstellen, dann sind klare Kompetenzabgrenzungen und Abstimmungsregelungen erforderlich. Die CSU hat ihre Positionen eingebracht: Die wasserdichte Verankerung des Ziels der Geldwertstabilität und der Unabhängigkeit der Zentralbank, die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Zuwanderung und die Daseinsvorsorge, der Verzicht auf weitere Kompetenzen der EU in der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie die Einbeziehung des Gottesbezugs.

Bei der Fortentwicklung der europäischen Einigung dürfen die Menschen nicht überfordert werden. Die Ablösung der DM durch den Euro und die bevorstehende Osterweiterung sind mit gewaltigen Veränderungen verbunden. Jetzt muss die Konsolidierung des Erreichten Vorrang haben. Die EU-Mitglieder müssen - endlich den Stabilitätspakt mit Leben erfüllen und die auf dem Gipfel in Lissabon vereinbarte Wachstumsstrategie umsetzen.

Das Auseinanderbrechen der EU während des Irak-Konflikts hat die Schwachstellen in der EU offenbart. Auf Dauer ist eine gemeinschaftliche Währung zu wenig, um den politischen Zusammenhalt zu sichern. Die EU wird sich nur dann zu einem ernsten Mitspieler auf der Bühne der Weltpolitik entwickeln, wenn sie für sich ein klares Selbstverständnis entwickelt. Die Konventsvorschläge für eine Verfassung haben hier keine Antwort gegeben. Die viel gestellte Frage der Finalität bleibt weiter ungelöst.

Gleiches gilt für die Frage nach den Außengrenzen der Union. Trotz der bekannten wirtschaftlichen Probleme hat das Wohlstandsniveau in den EU-Ländern eine Magnetwirkung entfaltet. Für viele Anrainerstaaten sind die gemeinsamen Agrarmärkte, die großzügigen Strukturhilfen und die Aussicht auf Freizügigkeit der Menschen verlockend. Die EU wäre jedoch schnell überfordert, wollte sie die Rolle einer Entwicklungsagentur für alle Anrainerstaaten übernehmen. Eine EU von Marokko über den Libanon bis hin nach Georgien oder Weißrussland würde sich ihr eigenes Grab schaufeln. Vor diesem Hintergrund muss auch die Diskussion über einen möglichen Beitritt der Türkei gesehen werden.

Die wirtschaftlichen Gründe gegen eine Vollmitgliedschaft Ankaras sind bekannt. Noch vor kurzem stand das Land unter der Aufsicht des Internationalen Währungsfonds. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 23 Prozent des EU-Durchschnitts. Die Inflationsrate lag im vergangenen Jahr bei rund 45 Prozent. In 10 bis 15 Jahren wäre die Türkei mit gut 80 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Mitgliedstaat der Union. Vorsichtig gerechnet müsste die EU jährlich 20 bis 25 Milliarden Euro an Transfermitteln bereitstellen. Welche Folgen eine volle Freizügigkeit für türkische Arbeitnehmer hätte, kann sich jeder ausmalen. Eine Völkerwanderung von Anatolien nach Deutschland wäre vorprogrammiert. All diese gewichtigen Bedenken werden von Bundeskanzler Schröder, der nach wie vor die Hoffnungen der Türkei auf einen schnellen Beitritt nährt, ignoriert. Wohl auch deswegen, weil er sich von seinem Kurs weitere Stimmengewinne für seine angeschlagene SPD unter den mittlerweile über 500 000 eingebürgerten Türken in Deutschland erwartet. Wer aber parteipolitischen Vorteilen zugunsten deutscher und europäischer Interessen den Vorrang gibt, handelt mehr als fahrlässig.

Das Projekt der europäischen Einigung ging bislang von einer gewissen Identität der europäischen Bürger aus. Diese Identität speist sich aus einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen politischen Kultur und einem gemeinsamen geographischen Raum. Diese Punkte sollen die Entwicklung eines europäischen Bewusstseins ermöglichen.

Auch in dieser Hinsicht ist ein EU-Beitritt der Türkei wenig plausibel. Der größte Teil der Türkei zählt zu Asien. Die Geschichte des Osmanischen Reichs ist durch die Entwicklung im Nahen Osten geprägt. Und ob die staatlich angeordnete Säkularisierung der Türkei wirklich gelungen ist, ist nach wie vor strittig. Die Warnungen von Schröders Lieblingshistoriker Prof. Heinrich August Winkler, dass sich mit einem EU-Beitritt der Türkei der Charakter der EU dramatisch verändern würde, schlägt Schröder in den Wind. Winkler ist beizupflichten, wenn er schreibt: "Eine EU, die auch die Türkei umfasst, könnte an ein europäisches Wir-Gefühl nicht mehr appellieren. Dazu seien die kulturellen Prägungen der Türkei und Europas zu unterschiedlich. Die Unterschiede, haben etwas mit Christentum und Islam zu tun." Und weiter: "In einem Europa, das kein Gefühl seiner eigenen Identität hervorzubringen vermag, wird der Nationalismus sein Haupt erheben. Der Nationalismus befriedigt Identitätsbedürfnisse und er würde es auf eine Weise tun, die für Europa verheerend wäre."

Daher gilt es, das Projekt der europäischen Einigung mit Mut und Augenmaß zu betreiben. Noch so schöne Visionen werden zu Eigentoren, wenn sie das Gebot der der Integrationsfähigkeit verletzen. Die Integrationsbereitschaft der EU-Bürger hat Grenzen. Ein von Brüssel gesteuertes Mega-Umverteilungssystem entfacht alles andere als Europa-Begeisterung. Eine weitere Belastung der Arbeitsmärkte im Falle voller Freizügigkeit kann kein ernst zu nehmender Politiker den Wählern zumuten.

Deshalb gilt es, nach anderen Wegen Ausschau zu halten. Deutschland hat traditionell ein freundschaftliches Verhältnis zur Türkei. Die Politik weiß um die geostrategische Bedeutung dieses Landes an der Brücke zu Asien und zum Nahen Osten. Diese Bedeutung hat nach dem Ende des Kalten Krieges noch zugenommen. Deshalb befürwortet die CSU eine privilegierte Partnerschaft unterhalb der Vollmitgliedschaft zwischen der Türkei und der EU. Denkbar wäre die Herstellung wirtschaftlicher Beziehungen, wie sie zwischen dem EU- und dem EWR-Raum bestehen. Ferner wäre eine stärkere Einbindung Ankaras in die im Aufbau befindliche gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu prüfen.

Wer eine Vollmitgliedschaft der Türkei befürwortet, dabei jedoch die Grenzen der Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft überschreitet, der riskiert bewusst oder unbewusst - ein Scheitern des Projekts der Fortentwicklung der europäischen Einigung von einem Binnenmarkt zu einer echten politischen Union.

 

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