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Landshuter,Straubinger, 22.April 2004

"Soziale Gerechtigkeit " das Unwort des Jahres

Nach einer Forsa-Umfrage meinen mehr als 70 Prozent der Bürger unseres Landes, die "soziale Gerechtigkeit" sei in der Werteskala sehr wichtig bzw. wichtig. Folgt man dagegen den in deutscher Geschichte historisch einmaligen "sozialen Grausamkeiten" (nicht nur denen der Agenda 2010 der SPD, sondern auch denen, die Regierungsprogramm der CDU/ CSU und FDP werden sollen), dann hat die "soziale Gerechtigkeit" alle Chancen, als Unwort des Jahres gekürt zu werden. Warum?

Die meisten Bürger unseres Landes haben durchaus ein gesundes Empfinden dafür, was sozial gerecht und was ungerecht ist. Sie wissen durchaus, dass, wie Kardinal Lehmann sagte "das Niveau von sozialer Gerechtigkeit nichts Statisches ist", nicht auf alle Ewigkeit unveränderbar. Die Balance zwischen Gerechtigkeit und dem Gegenteil der Ungerechtigkeit hängt zweifelsohne stets vom realen Niveau des Leistungsvermögens aller (!) ab. Das ist sicherlich von Zeit zu Zeit neu zu" definieren".

Das wäre die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass das Empfinden der Bürger eines Volkes, was zeitgemäß gerecht und was ungerecht ist, keinem ad hoc politischen Aktionismus, keiner partei- und machtpolitischen "Beliebigkeit" unterliegen sollte. Und so kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass in nahezu volksverdummender Art und Weise von nahezu allen Spitzenpolitikem und Parteien das Wort von der "sozialen Gerechtigkeit" wie auch das von "Reformen" - regelrecht missbraucht wird. . Von der Ungerechtigkeit spricht kaum jemand. Im Gegenteil. Das fürchten die Machtpolitiker wie der Teufel das Weihwasser, warum eigentlich? Da, wo es gerecht zugeht (Verteilungs-Umverteilungsgerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Beteiligungsgerechtigkeit, Steuergerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Generationengerechtigkeit usw.), geht es auch "ungerecht" zu. Allen zugleich gerecht zu sein, das ist eine "Kunst, die niemand kann", besagt ein altes deutsches Sprichwort.

Es gibt eine Menge von Fragen zur "sozialen Gerechtigkeit" (Ungerechtigkeit), wo die Antworten nur unvollkommen sind oder noch ausstehen. Einige hier als Beispiele:

Es ist die größte soziale Ungerechtigkeit, ein Armutszeugnis für das an sich reiche und wohlhabende Land Deutschland, dass es seit Jahrzehnten nicht gelingt, wieder eine "Vollbeschäftigung", eine Reduzierung der Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit zu erreichen. - Ist es gerecht, wenn die Schere zwischen Kapitalreichtum und Kinderarmut immer größer wird, wenn die Kinderarmut drastische Formen annimmt?

- Ist es sozial gerecht, wenn die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher werden? - Ist es soziale Verantwortung, wenn der "soziale Standort" Deutschland einfach den Billiglohnländern vorgezogen, wenn der "soziale Frieden" in Untemehmen gefährdet wird? - Ist es nicht doch sozial gerecht, wenn die gesetzliche Kranken- und Altersversicherung als eine solidarische Generationengerechtigkeit verteidigt wird?

- Ist es sozial gerecht, wenn mit der Rasenmähermethode fast ausschließlich Kassenpatienten bei der Gesundheitsreform betroffen sind und eine Spaltung zwischen "armen" Kassenpatienten und "betuchten" Privatpatienten im Übergang zu einer Mehrklassenmedizin erfolgt? - Ist die Auswahl der Gymnasialschüler und der Studierenden in Abhängigkeit vom Geldbeutel noch eine Chancengleichheit in der Bildung? Viele Kinder werden auf Chancenlosigkeit programmiert (in der Schule können ärmere Kinder einfach nicht "mithalten").

- Ist es leistungsgerecht, wenn bei vielen Managern die Bezüge nicht im Verhältnis zum Erfolg und dem Ergebnis stehen, während für die Hälfte der Arbeitnehmer das reale Einkommen in den letzten zehn bis zwölf Jahren sich nicht verändert hat? - Wie steht es mit den "Armutsvierteln" inmitten des Wohlstandes, dem sozialen Sprengstoff von Ghettos, ungenügender Schulbildung von Millionen Kindern, deren sozialer Anfälligkeit, der sozialen Kriminalität? - Ist es sozial gerecht, wenn einige Unternehmen in Gutsherrenmanier, die Betriebsrenten kürzen können, andere den" Knüppel aus dem Sack" holen, um die Arbeitnehmerrechte drastisch zu kürzen? Die Gräben in der Gesellschaft sollten auch Millionäre und Milliardäre nicht noch mehr vertiefen, um das "Klischee vom hässlichen Zerrbild des Kapitalismus" nicht zu kultivieren. - Und wird mit der permanenten Kürzung der Rentenbezüge (das reale Leistungsniveau liegt lt. Rürup ohnehin schon um ein Drittel niedriger als vor zehn Jahren) nicht wieder eine längst überwunden geglaubte - Altersarmut eintreten?

Ergo:Werden wir in der Sozialordnung Deutschlands, unter den Bedingungen der "neuen sozialen Marktwirtschaft", der neoliberalen, "radikalen Wettbewerbs-Politik" von Frau Merkel, Merz und Westerwelle in Zukunft so leben müssen, dass sich ein Drittel der Gesellschaft nahezu alles leisten kann und ein unteres Drittel in Armut und in den "prekären Wohlstand" absacken wird? Also: Kein Wohlstand für alle, weg vom Wohlfahrtsstaat? Das wären einige wenige Fragen, die mich zutiefst berühren und warum ich annehme, dass die "soziale Gerechtigkeit" zum Unwort des Jahres gekürt werden könnte.Prof. Alfred Keck Breslauer Str. 73 84028 Landshut