zurück

Landshuter,Straubinger, 25.Juni 2004

EIN SPIEGELBILD

VON HANKO WESTERMANN

Das enttäuschende Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft gibt keineswegs allein den dezidierten Fußballfans, sondern auch anderen Bürgerinnen und Bürgern sehr zu denken. Es entsteht nämlich der fatale Eindruck, dass Rudi Völlers Team letztlich ein Spiegelbild der Gesamtgesellschaft ist. Es mag ein Zufall sein, dass heute die 1954er "Helden von Bern " Furore machen. Kommt darin vielleicht die Sehnsucht nach der früheren Leistungsbereitschaft und -fähigkeit zum Ausdruck? Auf jeden Fall aber handelt es sich um ein interessantes Phänomen, das Rückschlüsse auf den inneren Zustand der Bundesrepublik zulässt.

Sepp Herbergers Kicker haben den Weltmeisterschaftstitel vor 50 Jahren mit jenen Qualitäten errungen, die die Menschen in der damals noch jungen Bundesrepublik ausgezeichnet haben: Enthusiasmus, Fleiß und Tüchtigkeit. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung von der Nazi-Diktatur waren sie von der Idee beseelt nicht nur den Wiederaufbau zu bewerkstelligen, sondern etwas Neues schaffen zu wollen. Das "Wunder von Bern" und das vom "Vater der D-Mark", Ludwig Erhard in Gang gesetzte deutsche "Wirtschaftswunder" waren doch keine Geschenke des Himmels, sondern die Produkte harter und zielstrebiger Arbeit. Gerade daran aber hapert es heute in viel zu vielen Bereichen.

Die Stärke eines Landes liege "gerade in der Fähigkeit, sich an neue Lagen und Probleme anzupassen", hat der damalige Kanzler Helmut Schmidt 1981 gesagt. Aber Oskar Lafontaines Frau hat das Buch "Recht auf Faulheit" geschrieben. Andere haben die Kernelemente der Sozialen Marktwirtschaft zerstört. Da ist guter Rat teuer. "Wir brauchen nun mehr Macher, die Erfolg versprechende Reformkonzepte umsetzen", sagt Ex-Bundesbankchef Hans Tietmeyer. Also weg vom kurzfristigen Spaß am Laisserfaire, hin zur nachhaltigen Freude an der Leistung. Balten, Tschechen und Polen geben uns eine Steilvorlage - nicht nur im Sport.

2.Juli 2004

KÖHLER, DER UNBEQUEME

VON TORSTEN HENKE

In einer Zeit, in der alles schlecht gemacht wird und vieles ohne Frage auch schlecht ist, tut es gut, Horst Köhler zuzuhören. Der neunte Bundespräsident ist kein Traumtänzer. Er kennt die Sorgen und Nöte der Menschen, die etwa einen Arbeitsplatz suchen oder um ihren Job bangen. Doch Köhler macht Mut. Das dokumentiert schon der Titel seiner ersten Rede nach Amtsantritt: Wir können in Deutschland vieles möglich machen. Dabei hat er konkrete Vorstellungen. Nicht weniger als einen , Mentalitätswechsel fordert er in der Sozialpolitik - eine neue Balance zwischen Eigenverantwortung und kollektiver Absicherung. Das ist das Gegenteil der rot-grünen Bürgerversicherung.

Damit gibt er einen Vorgeschmack darauf, was Bürger und politische Klasse vom Staatsoberhaupt erwarten können: Er gibt der Politik sogar Handlungsanleitungen. Dabei orientiert er sich an der sozialen Marktwirtschaft. Er macht feiner deutlich, dass er den Rahmen, den das Grundgesetz ihm gibt, ausschöpfen will. Es dürfte von Vorteil sein, dass er zwar lange Zeit Teil des Regierungsapparats war - die Spielregeln also kennt -, aber kein Berufspolitiker. Es scheint, als bekomme Deutschland mit Köhler eine neuen Typ im höchsten Staatsamt. Dass er einen Kontrast zu "Bruder Johannes" Rau darstellen wird, ist schon jetzt offensichtlich.

Zwar hat der Bundespräsident keine direkte Macht, doch machtlos ist er nicht. Köhler will und wird unbequem sein. Er kann Themen anstoßen und in Debatten eingreifen, wenn sie seiner Ansicht nach in die falsche Richtung laufen. Dass er dabei überparteilich sein wird, hat Köhler mit seinem Lob für die Agenda 2010 bewiesen. Ein Begriff kommt bei ihm immer wieder vor: Ideen. Daran mangelt es in der Tat. Und wo es Ideen gibt, hapert es oft bei der Umsetzung. Sollte es Köhler gelingen, den Ideenwettbewerb im Lande zu fördern, dann wäre das ein großes Verdienst. Vor allem wird der Bundespräsident die Politiker immer wieder antreiben müssen. Es stimmt: "Wir können uns trotz aller Wahlen kein einziges verlorenes Jahr für die Erneuerung Deutschlands mehr leisten. "

2.Juli 2004

ALLES SUPER ODER WAS?

VON RALF MÜLLER

Die Aufregung um ein" internes Strategiepapier" von Bayerns Chef-Reformer Erwin Huber ist ein Paradebeispiel dafür, wie hierzulande Reformdebatten geführt werden. Nämlich nach dem Motto: Es muss etwas geschehen, aber es darf sich nichts ändern. Zu Recht wird kritisiert, dass Jahrzehnte über einen Bürokratieabbau geredet wurde, sich aber kaum etwas getan hat. Jetzt soll endlich einmal tatsächlich etwas passieren - und der Chor der Jammerer, Wehklagenden, Bedenkenträger und Kritiker ist groß.

Einer Volkswirtschaft sei mit einer vergleichsweise geringen Zahl qualifizierter und motivierter Staatsbediensteter mehr gedient als mit einem großen, aber mittelmäßigen und unmotivierten Personalkörper, heißt es in dem Papier, das damit eine Binsenweisheit beschreibt. Zudem trifft diese Feststellung natürlich auch auf Bayern zu. Die Opposition, sollte sich freuen: Erstmals stellt ein fahrender Vertreter der CSU-Staatsregierung fest, dass auch im bayerischen Staatsapparat nicht alles super ist. Nicht einmal der Beamtenbund wird behaupten können, in den bayerischen Amtsstuben säßen überall ausschließlich topqualifizierte und hochmotivierte Staatsdiener.

Der von allen geforderte Bürokratieabbau wird nicht gelingen, wenn sich die Reformer Tabus und Denkverbote auferlegen lassen. Auch der vorgezeichnete Weg ist alternativlos: Nur wenn der Staat Aufgaben streicht, kann er auch seine Verwaltung reduzieren. Theoretisch stimmt dieser Feststellung jeder zu, aber wenn es an die eigenen Zuschüsse, an diese und jene Beratungsstelle und an diesen und jenen staatlichen Service geht, geht das Geschrei los.

Sich selbst prüfen und an diese Nase fassen ist das Gebot der Stunde. Das gilt übrigens auch für die Staatsregierung. Die bayerische Ministerialbürokratie ist größer als die in jedem anderen Bundesland. Sollte hier nicht gelten, was der unerschrockene Reformer Erwin Huber allgemein feststellt, dass nämlich weniger mehr ist? Das ist ein Prüfstein für die Reformfähigkeit in eigener Sache.

2.Juli 2004

IHR GRUNDSATZ IST RICHTIG

VON GEROLD SPRANGER

Das so genannte Arbeitslosengeld II ist durch, der weitere parlamentarische Gang nur noch eine Formsache. Ob der im Vermittlungsausschuss ausgefeilschte Kompromiss praxistauglich ist, muss sich erst noch erweisen. Im Grundsatz ist es jedenfalls richtig, den ausgeuferten Sozialstaat wieder auf seine Kernaufgaben zurückzuführen. Doch in einem Land, in dem jeder irgendwie seine Hände in den Taschen anderer Leute hat, wird der Protest dagegen nur langsam abflauen. Sicherlich ist Ostdeutschland mit Hartz IV aber nicht in den Abgrund gestoßen worden, wie die PDS in Schwerin mit linkem Timbre beklagt.

Frei nach dem Motto wir haben keine Zeit mehr, aber wir haben sie uns genommen, haben sich Opposition und Koalition so lange gegenseitig blockiert, bis es länger nicht mehr zu verantworten war. Das Ergebnis: Wie die Kommunen nun bei der Vermittlung und Betreuung von Langzeitarbeitslosen mit der Bundesagentur zusammenarbeiten können und wie sie dafür bezahlt werden, das ist wieder einmal eine Spitzenleistung deutscher Bürokratie.

Nicht nur deshalb ist Wolfgang Clements Prognose einer Zeitenwende am Arbeitsmarkt reichlich kühn. Denn die Vermittlung ist eine Sache, die Schaffung neuer Arbeitsplätze eine völlig andere. Und von denen fehlen mindestens 4,5 Millionen. Zugleich reißen die zusätzlichen Ausgaben für die Kommunen ein neues Loch in Eichels Etatplanung. Dieses Geld ist real, die 3,7 Milliarden von Toll Collect für das Mautdesaster sind dagegen nicht mehr als ein Hoffnungsposten.

Ursula Engelen-Kefer, der Sozialsirene des DGB, geht Hartz IV zu weit. Der PDS und den SPD-Linken auch. Dabei ist nirgends in der Welt der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt so hoch wie in Deutschland. 1969 lagen unsere Investitionen noch über den Sozialausgaben, heute liegen sie um 60 Prozent über den Brutto-Anlageinvestitionen.

Deutschlands Probleme sind kein Zufallsergebnis.

 

3.Juli 2004

LEITARTIKEL

AUFBAU-ILLUSION OST

VON DR. FRANZ EIBL

1250000000000 Euro - diese gigantische Summe ist bislang in den Aufbau Ost geflossen. Dennoch wurde das Ziel, einen selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung zu schaffen, völlig verfehlt. Die fünf neuen Länder und die Bundeshauptstadt hängen trotz der 1,25 Billionen Bruttotransferleistungen weiter am Tropf des Westens. Völlig in Luft aufgelöst hat sich das viele Geld indes glücklicherweise nicht. Von Kap Arkona auf Rügen bis zum Erzgebirge wurden seit 1990 Tausende von Kilometern an Bundesstraßen, Autobahnen und Eisenbahnstrecken gebaut. Zahllose Kommunen haben ihre Innenstädte renoviert und verfügen jetzt über neue Schulen, modernste Kläranlagen und schicke Erlebnisbäder. Daneben existiert unter anderem das modernste Telekommunikationsnetz der Welt. Das alles erinnert leider an die berühmten Potemkinschen Dörfer: Die Fassade glänzt, dahinter befindet sich aber nur ödes Land. Zwar gibt es mit Jenoptik in Jena, Infineon und VW in Dresden oder BMW in Leipzig durchaus industrielle Zentren, doch diese Ansiedlungen - die im Übrigen durch Fördergelder teuer erstellt wurden - sind nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Arbeitsplätze sind im Osten beinahe so selten wie Regen in der Sahara. Fast jeder Fünfte hat keinen Job. Die Quote wäre noch um einiges höher, hätte man nicht Hunderttausende - in den ebenfalls staatlich finanzierten - Vorruhestand oder auf ABM-Maßnahme geschickt.

Viele im Osten haben sowieso schon lange resigniert. Wer heute jung und schlau ist, hat seine Heimat schon lange verlassen. Ganze Viertel stehen inzwischen in Städten wie Schwedt, Eisenhüttenstadt, Magdeburg oder Frankfurt/Qder leer. Die Bevölkerung (einschließlich Berlins) sank von knapp 19 Millionen im Jahr 1989 auf nur noch 17 Millionen. Und immer noch hängt die Produktivität um ein Drittel hinter dem Westen her.

Wird der Osten also dauerhaft zum Land der Arbeitslosen, Alten und Doofen? Es braucht jedenfalls viel Optimismus, um eine positivere Zukunftsprognose zu entwerfen. Nach 14 Jahren Aufbau Ost mit dem "Gießkannen-Prinzip " steht zumindest fest, dass diese Methode kläglich gescheitert ist. Sie ist im Übrigen auch nicht weiter finanzierbar. Denn angesichts einer anhaltenden Konjunktur- und Haushaltskrise ist der Staat zunehmend mit dem Milliarden-Transfer überfordert. Wenn im Westen immer mehr staatliche Leistungen zurückgefahren werden müssen, kann im Osten nicht weiter beharrlich das Füllhorn in gleichem Umfang wie bisher ausgeschüttet und alles und jedes gefördert werden.

Doch alle Rufe nach dem überfälligen Kurswechsel wurden bislang von jeder Bundesregierung Hand in Hand mit den Ost-Ministerpräsidenten parteiübergreifend rüde zurückgewiesen. Diese Erfahrung musste auch das Experten-Gremium unter dem Vorsitz des früheren Hamburger SPD-Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi machen, als es vergangene Woche seine Empfehlungen für eine Umsteuerung bei der Ost-Förderung vorlegte. Unter anderem riet der "Gesprächskreis Ost" dazu, den Ausbau der Infrastruktur nicht länger in den Mittelpunkt der Strategie für die neuen Länder zu stellen, da diese inzwischen ausreichend entwickelt sei. Ferner empfahlen die Fachleute den Stopp der kommunalen Investitionsförderung. Stattdessen sollten künftig Unternehmen an bereits bestehenden "Wachstumskernen" gezielt und langfristig gefördert werden. Außerdem riet das Gremium dazu, über Bürokratieabbau, staatliche Lohnzuschüsse und niedrigere Tarifabschlüsse nachzudenken.

Kaum war die Expertise aber vorgelegt, wurde sie schon weitgehend im Papierkorb versenkt. Die große Koalition der Ablehnungsfront reichte vom Thüringer Ministerpräsidenten Dieter Altbaus (CDU) bis hin zu seinem Kollegen in Brandenburg, Matthias Platzeck (SPD). Und auch der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Verkehrsminister Manfred Stolpe, und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement reagierten auf die Dohnanyi-Vorschläge äußerst reserviert. Beim Aufbau Ost, so scheint es, setzt man wider aller Vernunft weiter auf das Prinzip "Weiter wie bisher".

Liegt diese Haltung daran, dass von Anfang an nicht mit offenen Karten gespielt wurde? Bekanntlich versprach einst Bundeskanzler Helmut Kohl den Bürgem im Osten, niemandem würde es schlechter gehen, und im gleichen Atemzug den Bürgern im Westen, die Wiedervereinigung sei ohne Mehrbelastungen zu stemmen. Statt von Anfang an den Ostdeutsehen reinen Wein einzuschenken und konsequent auf den mühsamen Neuaufbau der ostdeutschen Industrie zu setzen, konzentrierte man sich in erster Linie auf die Steigerung des Lebensstandards. Dabei wurden trotz reichlicher Warnungen die Fehler im Mezzogiorno wiederholt: Obwohl über Jahrzehnte Fördergelder in den Süden Italiens gepumpt wurden, gelang die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Bozen und Palermo bis heute nicht.

Es ist eben eine ökonomische Binsenweisheit, dass Subventionen allein dauerhaft keine Arbeitsplätze schaffen können. Kluge Menschen wie Klaus von Dohnanyi oder Otto Graf Lambsdorff hatten schon 1990 eindringlich davor gewarnt, den neuen Bundesländem das westdeutsche Sozialsystem eins zu eins überzustülpen. Doch wer damals ökonomische Vernunft anmahnte, dem wurde Unsolidarität mit den Ostdeutschen vorgeworfen. 14 Jahre später setzt sich nun langsam die Einsicht durch, dass der Vorschlag des damaligen Wirtschaftsministers Lambsdorff, eine "Sonderwirtschaftszone Ost" mit einem zeitlich befristet - vom Westen abweichenden Tarif- und Rechtssssystem zu errichten, nicht völlig verkehrt gewesen wäre. Solange aber die verantwortlichen Politiker am Dogma von den "vergleichbaren Lebensverhältnissen" festhalten -die im Übrigen auch zwischen Flensburg und Berchtesgaden nie existiert haben - und die bisherige Querbeet-Förderung nicht zugunsten des Grundsatzes "Hilfe zur Selbsthilfe" aufgegeben wird, werden die Steuerzahler im Westen wie im Osten noch viele Jahre für den Aufbau Ost bluten müssen.

Die Bundesregierung, so teilte Minister Stolpe mit, peilt nun für die annähernde Gleichstellung zwischen West und Ost das Jahr 2020 an. Der Wirtschaftswissenschaftler Helmut Seitz, Mitglied in Dohnanyis Gesprächskreis Ost, nannte gar die Zahl 2060. Arbeitnehmer und Arbeitgeber, denen als Solidaritätszuschlag zusätzlich 5,5 Prozent der Einkommensteuer bzw. Körperschaftsteuer abgeknöpft werden, dürften diese Prognosen mit Grausen vernehmen. Von der Abschaffung des ursprünglich als kurzfristige Maßnahme geplanten "Soli" ist schon lange keine Rede mehr. Vielmehr steht zu befürchten, dass es uns damit so gehen wird wie mit der Sektsteuer, die 1902 zur Finanzierung der deutschen Kriegsflotte eingeführt wurde: Zwar rosten die Schlachtschiffe Kaiser Wilhelms II. schon seit 65 Jahren auf dem Meeresboden vor sich hin, doch zahlen müssen wir die Schaumwein-Abgabe immer noch.