Straubinger, 17.Nov 2004

Der Jobmotor Mittelstand gerät ins Stottern

Studie: Zwei Millionen Arbeitsplätze sind von Verlagerung ins Ausland bedroht -
Investitionen sinken

München/Frankfurt. (AP) Der Jobmotor Mittelstand gerät Studien zufolge ins Stottern: Knapp zwei Millionen Arbeitsplätze in Deutschland, vor allem im Mittelstand, sind von der Verlagerung ins Ausland bedroht, berichtete der Verband der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie (VBM) am Dienstag in München. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) warnte vor sinkenden Investitionen; dies bremse die Entstehung neuer Jobs. Der Mittelstand beschäftigt den Angaben zufolge rund 26,6 Millionen Menschen - das sind drei Viertel aller Erwerbstätigen.

VBM-Hauptgeschäftsführer Stephan Götzl bezeichnete die geplanten Stellenverlagerungen des Mittelstands als erschreckend: Allein bei Firmen mit einem Umsatz bis zu 40 Millionen Euro sei in den kommenden fünf Jahren mit einer Steigerung 500 Prozent zu rechnen, zitierte Götzl aus einer Studie, die der Verband bei der Technischen Universität München in Auftrag gegeben hatte.

Danach wurden bisher jährlich rund 100 000 Industrie-Jobs aus Deutschland abgezogen. Bis 2009 werde die Zahl vermutlich auf 135 000 bis 177 000 pro Jahr ansteigen. Mit jeder verlagerten Stelle verschwinden laut der Studie 1,7 weitere in Dienstleistung und Handwerk. Während früher hauptsächlich Jobs der Produktion ins Ausland gingen, seien in jüngster Zeit zunehmend Stellen in Forschung und Entwicklung, Service oder Verwaltung betroffen. Knapp jede zehnte verlagerte Stelle komme derzeit nach Deutschland zurück.

Wie KfW-Chef Hans Reich sagte, entstehen neue Jobs vor allem bei investierenden Mittelständlern. In diesen Betrieben wachse die Beschäftigung um etwa 3,5 Prozentpunkte stärker als in Firmen, die nicht investieren, heißt es im "Mittelstandspanel 2004", für das rund 15000 Betriebe mit weniger als 500 Millionen Euro Jahresumsatz befragt wurden. Danach investierten kleinere und mittlere Firmen im vergangenen Jahr 190 Milliarden Euro, 2002 waren es noch mehr als 200 Milliarden Euro.

Laut KfW kamen 13 Prozent der geplanten Investitionen nicht zu Stande, weil die Kreditverhandlungen scheiterten. Lediglich 41 Prozent aller Mittelständler erhielten Geld von den Banken, große Betriebe weitaus häufiger als kleine. Hauptgrund für geplatzte Verhandlungen war den Angaben zufolge, dass die Mittelständler die geforderten Sicherheiten nicht vorweisen konnten.

Wenn Investitionen anstünden, würde fast jedes dritte westdeutsche Unternehmen Teile seiner Produktion in Ostdeutschland ansiedeln, wie eine Umfrage des Mitteldeutschen Rundfunk ergab. Niedrigere Lohnkosten, qualifizierte Mitarbeiter und staatliche Förderungen machten die jungen Bundesländer attraktiv. Mehr als die Hälfte der rund 150 befragten Betriebe der Metall-, Elektro-, Chemie-, Kunststoff- und Keramikindustrie sah im Osten günstigere Standortbedingungen als im Westen. Nur 39 Prozent - und damit weniger als erwartet - konnten sich wegen der niedrigeren Lohnkosten eine Investition Osteuropa vorstellen.

15.Nov 2004

"Wir sind einfach zu teuer"

Exklusiv-Interview mit Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn
Von unserem Münchner Korrespondenten Ralf Müller

Herr Prof. Sinn, ist die durch die missglückte Streichung eines Feiertags angestoßene Debatte um Arbeitszeitverlängerung zielführend für Wachstum und Beschäftigung?

Sinn: Ja, aber das Ziel ließe sich einfacher erreichen, wenn wir die Arbeitszeit ein bißchen verlängern würden. Wenn wir zehn Prozent länger arbeiten würden, also von 38 auf 42 Stunden pro Woche gingen, entspräche dies etwa 20 bis 30 Feiertagen. Die Streichung eines Feiertages ist ein schmerzlicher Beitrag, der nicht viel bringt. Die Verlängerung der Arbeitszeit wird wahrscheinlich auf viel weniger Widerstand stoßen und hat zudem einen viel größeren Effekt.

Bundesfinanzminister Eichel hat den Wachstums-Beitrag durch die Streichung eines Feiertages mit 0,1 Prozent beziffert. Richtig oder eine Milchmädchenrechnung?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sinn:Das ist keine Milchmädchenrechnung, nur eine sehr vorsichtige Rechnung. Ich glaube, der Effekt liegt bei einem Feiertag wie dem 3. Oktober langfristig eher im Bereich von einem drittel Prozent. Nur kann man langfristig eben bis zu zehn Prozent zusätzliches Wirtschaftswachstum erreichen, wenn man zehn Prozent länger arbeitet. Das ist eine ganz andere Größenordnung.

Gegen Mehrarbeit wird angeführt, dies würde nur zu noch mehr Arbeitsplatzabbau führen, weil weniger Beschäftigte benötigt würden. Ist das ein Trugschluss?

Sinn:Wer so argumentiert, der muss auch die Ansicht vertreten, dass technischer Fortschritt, der die Arbeit produktiver macht, Arbeitsplatzabbau bedeutet. Beides hat exakt die gleichen Wirkungen im Wirtschaftsablauf.

Wäre denn eine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche sinnvoll und was würde dies an Wachstum und Bschäftigung bringen?

Sinn:Das Sozialprodukt. wäre nach einer gewissen Anpassungsphase dauerhaft um drei bis fünf Prozent höher.

Schon in den neuen EU-Ländern sind die Arbeitskosten aber weitaus niedriger. Bringen denn da fünf Prozent Mehrarbeit in Deutschland überhaupt etwas?

Sinn: Sie haben Recht, das ist noch zu wenig. Aber wir müssen nicht auf das tschechische oder polnische Lohnniveau kommen, weil die Arbeit in Deutschland noch sehr viel produktiver ist. Man kann um so viel teurer sein wie man besser ist. Aber wenn man sieben Mal so teuer ist, müsste man sieben Mal so gut sein. Das sind wir nicht. Das ist das Problem.

Zum ersten Mal ist das Thema Mehrarbeit von einem SPD-Spitzenpolitiker, nämlich von Finanzminister Hans Eichel, angestoßen worden. Glauben Sie, dass jetzt Bewegung in dieses Thema kommt?

Sinn: Ja. Alle Vernünftigen sehen ein, dass dies der Weg ist, den man gehen muss.

Sie sagten, es entstehen im Dienstleistungsbereich nicht genug neue Arbeitsplätze. Wie würde sich eine Arbeitszeitverlängerung auf dieses Problem auswirken?

Sinn:Wir haben im produzierenden Gewerbe ohne Bau einen großen Rückgang an Arbeitszeit. In der übrigen Wirtschaft entsteht nur etwa ein Siebtel neu. Der Rest der nicht mehr benötigten Arbeitsstunden geht in die Arbeitslosigkeit. Das liegt daran, dass die deutschen Lohnkosten zu hoch sind. Wenn wir die Löhne senken, verlangsamt sich der Prozess. Dann wird es nicht mehr soviel Outsorcing geben. Mehr Unternehmen bleiben mit ihren Produktionsstätten in Deutschland. Im Baugewerbe und im Dienstleistungssektor entstehen mehr Stellen.

Wie kann man überhaupt die Löhne senken?

Sinn:Nochmal: Pro Stunde vor allem durch Mehrarbeit für das gleiche Geld. Außerdem kann man die Tarifvereinbarungen ändern und die Aufgaben des Sozialstaates verringern, so dass weniger Lohnzusatzkosten anfallen. Dies bedeutet aber, dass der Staat den Gürtel enger schnallen muss. Immerhin leben über 40 Prozent der Wähler in Deutschland von Sozialtransfers einschließlich Renten und Pensionen. Die müssten Einschnitte hinnehmen.

Ein aussichtsloses Unterfangen?

Sinn:Meine Skepsis ist eine politische, aber keine ökonomische. Das Ruder muss herumgerissen werden. Ich bezweifle allerdings, dass die Deutschen so weit sind, das alles einzusehen.

Welches Land hat die Umstrukturierung am besten bewältigt? -

Sinn:Dänemark und Schweden als sozialdemokratisch orientierte Sozialstaaten haben vorgemacht, dass vieles möglich ist. Dänemark hat den Kündigungsschutz abgeschafft. Schweden sein System der Tarifverhandlungen umgekrempelt. In beiden Ländern sind die Löhne niedriger. In Schweden liegt für Industriearbeiter das Lohnkostenniveau pro Stunde bei 21 Euro, in Deutschland bei 27 Euro. Wir können uns drehen und wenden, wie wir wollen: Wir sind einfach zu teuer. Die Welt ist nicht mehr bereit, die Preise, die wir für unsere Arbeit verlangen, zu zahlen.

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