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From: Reinhold Kiehl
To: Reinhold Kiehl
Sent: Saturday, December 17, 2011 7:16 PM
Subject: balle, rettungsschirm

Der wahre Rettungsschirm


Von Prof. Dr. Martin Balle, 17.12.2011, straubinger z., idowa.de


Ein Psychotherapeut, der sonst eigentlich recht wenig mit der allgemeinen Finanz- und Wirtschaftswelt zu tun hat, meinte vor

einigen Wochen bei einer öffentlichen Veranstaltung in einer lakonischen Nebenbemerkung: "Ja, das ist dann die letzte Stufe unserer allgemeinen Weltentwertung: dass heute noch nicht einmal mehr das Geld etwas wert ist!"


Auch wenn die von vielen Experten bereits für dieses Jahr vorausgesehene Inflation noch nicht eingetreten ist, so sind dennoch die Billionen-Rettungsschirme, die jede Woche wieder neu aufgespannt werden, weit weg von den Summen und Beträgen, die in der Realwirtschaft tatsächlich umgesetzt oder erwirtschaftet werden. Es sind virtuelle Zahlen, die nicht mehr vorstellbar und begreifbar sind, die uns täglich in den Nachrichten präsentiert werden und die unsere psychische Belastungsfähigkeit überdehnen.


Letztlich ist so auch diese Finanzkrise ein Auswuchs unserer digitalen Welt, wo in Millisekunden ungeheuere Beträge künstlich konstruiert und rund um den Globus gejagt werden, ohne dass hinter diesen Transaktionen echte Wertschöpfung liegen würde. Wie schon vorher unsere ganze Welt der Sprache durch die Allgegenwart und die Allmacht des Internets auch einem gigantischen Entwertungsprozess unterworfen wurde, so ist jetzt am Ende nach der Sprache das Geld einer solchen Inflation unterworfen. Denn schon der Wechsel von einer analogen Welt, wo vor allem das persönliche Gegenüber noch die entscheidende Rolle im Gespräch spielte, in eine digitale Welt, wo jeder ungefiltert am Bildschirm zu Hause seinen Senf in den Weltraum des Internets ablässt, war neben den Chancen, die das Internet bietet, immer schon auch eine Form der Entwertung, der Inflation. Dass Journalisten heute eben nicht mehr die sogenannten "Gate-Keeper" des öffentlichen Raumes sind, sodass am Ende nicht alles gesagt wird, was irgendwo irgendwer denkt, wird deshalb in den Medienwissenschaften auch bedauert.


Vor diesem Hintergrund einer aufgeblähten Medien- und Finanzwelt können heute viele Menschen mit dem Weihnachtsfest überhaupt nichts mehr anfangen. Es erscheint ihnen buchstäblich als ein Anachronismus: Es passt für sie einfach nicht mehr in unsere postmoderne Zeit! Ein Märchen aus tausendundeiner Nacht, mit dem heute nichts mehr anzufangen sei. Dabei liegen die Dinge doch genau andersherum: Wer sich in den Vorweihnachtstagen ein wenig in die Texte der Evangelien vertieft, der kann spüren, dass hier eine Gegenwelt zu unserer aufgeblähten Sprachwelt, aber auch zu unserer

irrsinnigen Finanzwelt liegt. Denn Jesus spricht in vielen Gleichnissen vom Geld. Aber da geht es nie um Euro-Milliarden; sondern es geht in einer ganz einfachen Sprache um ein, drei oder fünf Talente, die nicht vergraben werden dürfen! Oder es geht um die reiche Ernte, die nicht dazu führen darf, dass wir uns auf die faule Haut legen. Oder es geht um den, dem der Gläubiger die Schulden erlässt, der aber selbst in unerbittlicher Selbstgerechtigkeit bei seinen Schuldnern die Schulden eintreibt. Die ganze Welt des Neuen Testaments spielt sich auch in der Welt des Geldes ab ­ aber was für ein Unterschied zu den europäischen Gipfeltreffen mit ihren immer neuen Rekordsummen! In der Bibel steht an jeder Stelle der Mensch im Mittelpunkt: in seinen Bedürfnissen, aber auch in seinen Abgründen. Alle Märkte dienen am Ende nur dazu, dass er seine Arbeitskraft einsetzen darf und für sich genug zum Leben hat.


Eines der schönsten Evangelien ist dabei das Lukas-Evangelium vom klugen Verwalter (16, 1-8). In diesem kaum bekannten Text geht es darum, dass ein Verwalter faul war und deshalb von seinem Chef entlassen werden soll. Als der Verwalter merkt, dass seine Entlassung unmittelbar bevorsteht, geht er deshalb in sich und überlegt: "Was soll ich jetzt tun? Zu schwerer Arbeit tauge ich nicht, und zu betteln schäme ich mich. Doch ­ ich weiß, was ich tun muss, damit mich die Leute in ihre Häuser aufnehmen, wenn ich als Verwalter abgesetzt bin." Und der Verwalter erlässt den Schuldnern die Schulden, die sie bei seinem Chef haben. Aus unserer heutigen Sicht ein Skandal! Der Verwalter begeht Unterschleif. Er betrügt. Er erlässt anderen Schulden, die sie gar nicht bei ihm haben, sondern die ihm bloß anvertraut sind und über die er gar nicht verfügen dürfte. Und er tut all das, nur damit er selbst am Ende irgendwo Unterschlupf findet, wenn er keine Arbeit mehr hat.


Der Verwalter versündigt sich so aber gegen den Lieblingssatz unserer heutigen Welt: "Die Kasse muss stimmen!" Und das Erstaunliche am Evangeliumstext ist jetzt, dass sich Jesus auf die Seite des existenzgefährdeten Verwalters schlägt, sodass der Text ganz überraschend so endet: "Und der Herr lobte die Klugheit des unehrlichen Verwalters und sagte: Die Kinder dieser Welt sind im Umgang mit ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichtes." Wenn wir diesen Text auf unsere Tage beziehen, müssen wir dann nicht sagen, dass der Satz "Die Kasse muss stimmen" doch tatsächlich längst in sein perverses Echo umgeschlagen ist.


Wenn in dieser Woche der Gründer des Finanzdienstleisters AWD, Carsten Maschmeyer, der sich an den Ersparnissen Tausender Kleinsparer selbst bereichert hat, sein letztes Aktienpaket versilbert und nochmals über 50 Millionen Euro erlöst hat, dann stimmt bei ihm zwar die klingelnde Kasse und er kann wohl von keinem Staatsanwalt der Welt belangt werden. Aber verglichen mit ihm ist der betrügerische Verwalter, der bloß sein Leben retten will, ein Heiliger! Wer sich auf die paradoxe Welt des Neuen Testaments einlässt, der wird gerade in diesen Zeiten bereichert. Dass Gott in Gestalt eines Kindes zur Welt kommt: verletzbar und wehrlos. Dass die Sprache der Evangelientexte nie über die Bilderwelt der einfachen Gleichnisse hinausgeht: Es gibt keinen philosophischen Text bei Lukas oder Markus oder Matthäus. Dass mit den Wundern, die gewirkt werden, noch heute an die Türen unserer Seelen geklopft wird: sodass Hoffnung ist und nicht Verzweiflung. Auch wenn diese Wunder nur Beispiele sind, dass Dinge sich ändern können.


Die Weihnachtswelt ist kein Edelkitsch, der nicht mehr in die Zeit passt, sondern umgekehrt Widerspruch zu einer Welt, die sich nicht mehr um das Wohl des Einzelnen schert. Die moderne Psychoanalyse hat gegenüber dem "Ich", von dem her wir lenkend und machtvoll unsere moderne Welt regieren, das "Selbst" ins Spiel gebracht. Unser Selbst aber können wir im Unterschied zu unserem Ich nicht manipulieren. Hier liegen all unsere Möglichkeiten und Wünsche, eben wir selbst, verborgen oder manchmal begraben. Unser Selbst ist auch die Welt des Unbewussten, der Träume, der Hoffnungen und nicht zuletzt unseres Glaubens. Die Weihnachtszeit mahnt uns, dieses Selbst, das jedem von uns einzigartig geschenkt ist, in seiner ganzen Armseligkeit, aber auch in seinen unendlichen Möglichkeiten wieder ins Spiel zu bringen. Die Politiker mögen jede Woche neue Rettungsschirme über die Bildschirme der Nationen flimmern lassen. Die eigentliche Erlösung geschieht im innersten Selbst jedes Einzelnen von uns. Unaufgeregt